Die Schwestern Kadru und Wmata waren Gattinnen des Schöpfers Kaschjapa. Kadru brachte tausend und abertausend Kinder zur Welt. Sie war die Mutter aller Schlangen und liebte ihre klugen und zierlichen Sprößlinge voll Stolz und Freude. Winata sah voll Neid auf die Scharen blühender Kinder und erflehte vom Schöpfer einen Nachwuchs, weit mächtiger als das Schlangengeschlecht der Schwester. Sie gebar den Aruna und den Garuda.
Aruna, ein schöner Knabe, war ohne Beine zur Welt gekommen. Der Sonnengott nahm ihn als Wagenlenker, und morgens und abends sieht man den Herrlichen das rote Siebengespann leiten, das im goldenen Joch den perlengeschmückten Wagen Suryas durch den Äther zieht.
Garuda war der Fürst der Geier, ein furchtbarer Feind seiner schleichenden Vettern. Stark war er und weitflügelig, der größte Vogel der Welt! Dem erhabenen Gott Wischnu diente Garuda als Reittier oder er saß in dem ‚Dämmen-Schlacht auf dem Bannerschaft seines Streitwagens. Voll Stolz strich er durch den Weltenraum
und deuchte sich selbst dem Götterkönig an Kraft gewachsen. Als Indra einst den Schlangenprinzen Sumucha, den Eidam seines Wagenlenkers Matali, vor Garuda beschützte, stritt der stolze Vogel mit dem Herrn der Welt und prahlte mit seiner grimmigen Stärke. Lächelnd legte Indra dem Zornigen seine Linke auf die Schulter, daß diesem schier der Flügel brach unter der Last der Faust, die einst die Erde befestigt hatte. Kleinlaut bat der Wischnuvogel, ihn zu schonen, und spottend warf Inra ihm Sumuchas abgestreifte Haut um den nackten Hals.
Durch alle Zeiten trägt Garudas Volk diese Krause, als Zeichen der schmählichen Prahlsucht sein es Ahnherrn.
Kadru und Winata waren voll Eifersucht gegeneinander, denn jede war stolz auf ihre Kinder und sah in ihnen die Krone der Schöpfung. Einst gerieten die beiden in Streit über die Farbe des
Götterrosses Utschaisrawa: schwarz! sagte Kadru; weiß! Winata.>>Wir wollen um die Freiheit wetten!« schlug Kadru vor, denn sie hatte einen Plan, der die verhasste Schwester in ihre Gewalt bringen sollte. »Wir wollen wetten, und wer verliert, dient der andern als Sklavin! «
Winata war damit einverstanden, denn sie wusste bestimmt, dass Utschaisrawa weiß sei. »So wollen wir morgen an das Ufer des Meeres gehen und das herrliche, hochohrige Roß betrachten, wenn es bäumend aus den
Fluten steigt!« sprach Kadru. Dann sandte sie einige ihrer Söhne bei dem Schlangenvolk umher und befahl, dass alle ihre Kinder sich am andern Morgen als schwarze Haare an das Götterroß heften solllten, auf dass ihre Mutter nicht der Sklaverei verfiele. Doch die Schlangen sind sehr leichtsinnige Geschöpfe: Im strömenden Regen der Nacht badeten sie voll Wonne und sonnten sich träge am nächsten Morgen. Nur wenige hatten der Mutter Befehl befolgt. Und als Utschaisrawa aus den Fluten stieg, war der Hengst silberweiß und trug nur einen schwarzen ‚ Schweif aus den wenigen getreuen Kindern Kadrus.
Da verfluchte die Sklaverei verfallene Mutter ihre
ungehorsamen Kinder:>>Sterben sollt ihr alle bis zum Letzten! Wenn Dschanamedscha- ja das Schlangenopfer feiert, soll das Feuer euch verzehren! Alle mögen enden auf dem Opferherd, den der Sohn Parikschits aus
dem Kuruhause baut!« Und der Schöpfer der Welt hörte den Fluch und verhängte seine Erfüllung als Strafgericht über das Schlangenvolk, denn bösen Schaden hatten die Giftzähne der Kadrusöhne seinen Menschen und Tieren schon zugefügt. Die listigen Schlangen aber versammelten sich in einer Steinwüste und hielten Rat, wie sie dem schrecklichen Fluch der Mutter entgingen. Einer riet, das Kurugeschlecht unter den Bissen der Nattern sterben zu lassen, auf dass nie ein Parikschit, noch ein zschanamedschaja geboren werde. Ein zweiter wollte ruhig die Zeit abwarten, bis Dschanamed- schaja das Opfer rüste und ihn dann in Brahmanengestalt so eindringlich bitten und warnen, dass er sicher von der Ausführung seines Vorhabens abstünde. Ein dritter riet, den Priester, der das Schlangenopfer leiten wolle, zu töten. Andere “rollten im Regen die Opferfeuer löschen oder die heiligen Geräte verunreinigen, so dass die Zeremonie unwirksam bleibe, Dschanamedschaja töten und noch manches
andere. Doch Wasuki, der Schlangenkönig, sprach mit ernster Miene:>>Was schwätzt ihr da von Königs- und Brahmanenmord, ihr Überklugen! — Glaubt ihr, Sünde lösche Sünde aus? — Mag dem und jenem Fluch die List entkommen doch unabwendbar ist ein Mutterfluch! — So unabwendbar wie das Schicksal! —- Bei ihm will ich Hilfe suchen, in einer Stunde, da die Götter uns gnädig sind.
Vielleicht mildert Brahma den Fluch auf ihre freundliche
Fürsprache. Harret und hoffet!« Traurig, furchtsam und doch voll Hoffnung auf die Weisheit ihres Königs, schlichen die Schlangen hinweg, und Wasuki sann, wie er den Göttern dienen könnte, um sein geliebtes Volk zu erretten. |